Bielefeld gibt auf – über eine rechte Massenbewegung, Neonazis und das Schweigen der Bielefelder Zivilgesellschaft

Am 04.11.22 hielt die rechte verschwörungsideologische Gruppe „Bielefeld steht auf“ (BSA) erneut eine Großdemonstration in Bielefeld ab. Circa 400 Teilnehmer*innen zogen, ohne jede Form zivilgesellschaftlichen Gegenprotests, durch die Stadt. Darunter auch ca. 25 Personen der neonazistischen und neofaschistischen Szene OWLs. Immer wieder nehmen bekannte Neonazis und organisierte Neofaschisten an den BSA-Demos teil. In einer so großen Zahl wie am 04.11.22 war dies zuletzt am 17.12.21 der Fall. Seit der von uns bereits damals scharf kritisierten Kampagne „Bielefeld nimmt Platz“ ist über die vergangenen Monate hinweg jeglicher Gegenprotest gegen die rechte Großdemo weggebrochen. Nun steht am 03.12.22 die nächste Demo an. Zeit, eine Bilanz zu ziehen.

Bielefeld steht auf: eine rechte Gruppierung und ihre Anhänger*innen

08.10.22 Hannover: Das BSA-Moderatoren Duo André Jesse & Sven mit Matthäus Westfal aka. AktivistMann

Thematisch dominieren in der BSA-Gruppe, wie wir bereits vielfach belegt haben, die systematische Leugnung der Corona-Pandemie, des Klimawandels sowie der Geschlechtervielfalt. Antisemitische Verschwörungsmythen werden seit Beginn im BSA-Telegramchat verbreitet. Dies mischt sich mit refugee-feindlichen, explizit rassistischer Agitation sowie trans- und homofeindlicher Hetze. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine werden auch prorussische Inhalte geteilt, welche allerdings nicht thematisch dominieren. Beiträge der AfD, der Freien Sachsen, der Jungen Nationalisten (JN), des Compact-Magazins und anderer neofaschistischer Aktivist*innen wie Martin Sellner werden unwidersprochen sehr regelmäßig geteilt und von Gruppenmitgliedern durch likes belohnt. Das Organisationsteam besteht unter anderem aus André Jesse undAngela Landwehr, Jesse agiert als Moderator und Versammlungsleiter. Landwehr hat mehrere der Demos angmeldet. Das Organisationsteam löscht als störend empfundene Inhalte schnell und schmeißt Personen aus dem Chat, die die Gruppe oder rechte Positionen klar und anhaltend kritisieren. Störend sind Nachfragen zur Belegbarkeit der geteilten Fake-News, Positionierungen gegen rechte Propaganda oder auch die Akzeptanz der Covid-Impfung. Fake-News, Verschwörungsmythen und Neonazi-Propaganda werden hingegen nicht gelöscht, sie sind der Kerninhalt dieser Gruppe. Dabei ist in den letzten Monaten eine Zunahme der offen neonazistischen und neofaschistischen Beiträge zu beobachten. So werden beispielsweise die aktuellen Werbeposts der JN tagesaktuell bei BSA geteilt, ebenso wie Beiträge des ultranationalistischen Compact-Magazins oder auch ein Interview mit dem Holocaustleugner Horst Mahler. Aber auch schon im Januar konnten Neonazis aus OWL in dem Kanal offen ihre neue Gruppe „Westfalens Eichensöhne“ bewerben.

Auch der Kreis der Organisator*innen radikalisiert sich zusehends. Auf diese zu erwartende Entwicklung haben wir schon ab 2020 hingewiesen. Beispielhaft können hier die BSA-Aktivisten Daniel und Andi genannt werden. Daniel nimmt regelmäßig an den BSA-Demos als Ordner teil und bereist auch überregional rechtsdominierte AntiCorona- und Energieproteste. Als Ordner fällt Daniel immer wieder auch durch aggressives Verhalten gegenüber Journalist*innen und Gegendemonstrierende auf. Im Juli 2022 beteiligte sich Daniel an der Neonazi-Aktion „Schwarze Kreuze“. Jährlich bringen Neonazis bundesweit Mitte Juli schwarze Holzkreuze mit rassistischen Slogans an Ortseingangsschildern an, um gegen Geflüchtete und People of Colour als mutmaßliche Gewalttäter*innen zu agitieren. Daniel brachte in diesem Jahr sechs Kreuze an Ortsschildern in Bielefeld und Herford an. Die Neonazi-Aktion wurde auch bei BSA beworben und lobend erwähnt. Bei Instagram folgt Daniel einschlägigen Neonazi-Organisationen wie der Gruppe „Westfalens Eichensöhne“.

Dauerredner Andi nutzt die BSA-Demos seit ca. einem Jahr als Bühne. In seinen Reden und auch seinen Beiträgen in der Chatgruppe agitiert er massiv gegen Geflüchtete, Antifaschist*innen und LGBTQI*-Personen. Für diese Auftritte tritt er mal kostümiert als Pestdoktor oder Affe, mal im Pullover von Phalanx Europa auf. Phalanx Europa gilt als Kleidermarke der neofaschistischen Identitären Bewegung und vertreibt rechte Szenekleidung mit eindeutigen nationalistischen Botschaften. Andis eigener Aussage nach befindet er sich bereits seit 2018 im „patriotischen Kampf“. Im April 2022 besuchte er einen Auftritt des antimuslimischen Rassisten Michael Stürzenberger in Bielefeld.

Neonazis, bekennende Rassist*innen, Politiker*innen der AfD und Junge Alternative (JA) waren seit Beginn an Teil von BSA. Hier findet keine Unterwanderung oder ein Übernahmeversuch von Neonazis statt, wie zum Teil durch lokale Medien gern behauptet wird (zuletzt in der NW am 24.11.22). Ähnlich wie bei Pegida sind bunt gekleidete Bürger*innen, Angehörige der organisierten Impfgegner-Szene, Reichsbürger und eben auch militante Neonazis fester Bestandteil von BSA. Ihr Bindeglied sind ihre Ideologien: sozialdarwinistische Überzeugungen, Nationalismus, Demokratiefeindlichkeit und eine Ablehnung einer diversen und multikulturellen Gesellschaft.

Neonazis nutzen BSA für Straßenkampfproben

Die Anti-Corona-Demos bieten für organisierte Neonazis, neben den ideologischen Anknüpfungspunkten und darauf basierenden Rekrutierungsmöglichkeiten, eine in Westdeutschland historische Chance der Akzeptanz und dem Schutz durch eine sich bürgerlich begreifende Massenbewegung. Die Akzeptanz besteht in dem vermeintlich „unpolitischen“ Schulterschluss der rechten Bewegung mit allen, die sich bei den Demos versammeln. Alle Teilnehmenden werden als „Erwachte“ begriffen, sie wähnen sich in einer globalen Verschwörung, die nur sie als solche identifiziert haben und die von „dem System“ betrieben wird. Alle, die in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit in der Kritik stehen für rechte, verschwörungsideologische und antisemitische Positionen, werden als ebenfalls Erwachte und Verbündete wahrgenommen. Dies nutzen regional organisierte Neonazis gezielt aus, um sich als Gruppe auf der Straße zu erproben und um sich auf mögliche Auseinandersetzungen vorzubereiten bzw. aktiv darauf hinzuwirken.

Am 17.12.2021 zeigte sich eine ostwestfälische Neonazi-Gruppe, bestehend unter anderem aus Lennard Sanner und Valentin Hassenewert, bei der BSA-Demo. Die Gruppe trat vermummt und aggressiv auf. Als es am Bielefelder Rathaus zu Ausschreitungen gegen die Polizei kam, waren Sanner und die ihn begleitenden Neonazis entscheidend an den Tumulten beteiligt. Am 04.11.22 trat die Neonazi-Gruppe erneut bei der BSA-Demo auf. Die Neonazis waren teilwiese vermummt und mit Quarzhandschuhen bekleidet. Immer wieder verließen einzelne, wie auch Kleingruppen bis zu drei Personen, die Demo und hielten am Rand Ausschau, mutmaßlich nach Gegendemonstrierenden. Überregionale Neonazi-Gruppen, die zur gleichen Zeit wie die „Westfalens Eichensöhne“ aufkamen wie bspw. die „Revolte Rheinland“, nutzen jede Demoteilnahme zur Bewerbung bei Instagram. Die ostwestfälische Neonazi-Gruppe tut dies nicht. Die Demos werden zur Erprobung der im Alltag geübten Straßenkampftechniken genutzt. Da von geplanten gewaltsamen Übergriffen durch die Neonazis auszugehen ist, wundert auch das Ausbleiben der öffentlichen Ausschlachtung der Demoteilnahme nicht.

HDJ-Nachwuchs: Neonazismus und Gewalt als Erziehungsziel

Sommertour der IB 2020: 1. v.l. Martin Küsterarend, 2. v.r. Arne Ulrich

Die genannte Neonazi-Gruppe wirbt online unter zwei Labels um Interessierte: Westfalens Eichensöhne und Aktion Hermannsland. Während die Eichensöhne in ihrer Online-Ästhetik an die Identitäre Bewegung anknüpfen, spricht die Aktion Hermannsland mit völkisch-rassistischer Propaganda eher das klassische Neonazi-Publikum an. Fotos von Aktionen der Eichensöhne belegen die Mitgliedschaft bekannter Sprösslinge der regionalen völkischen Neonazi-Sippen, die bereits in der verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) erzogen wurden. So zum Beispiel Arne Ulrich (Detmold-Berlebeck), Falk Hanusek (Fromhausen) oder auch Erik Steinbiß (Lippstadt). Alle drei entstammen bekannten völkischen Neonazi-Familien, welche allesamt Mitglieder, z.T. in führender Position, in der HDJ waren und überdies in der rassistischen Artgemeinschaft bis heute aktiv sind. Arne Ulrich ist der Sohn des ehemaligen HDJ-Einheitsführers Gerd Ulrich, der ebenfalls am 17.12.21 und am 04.11.22 die BSA-Demos besuchte. Arne Ulrich wurde, ebenso wie Falk Hanusek und Erik Steinbiß, in der HDJ ideologisch und auch körperlich gedrillt. Neonazismus und Gewaltbereitschaft waren erklärte Erziehungsziele der HDJ. Die drei Söhne der Hanusek-Familie, Erik, Thoren und Falk, sind bereits mehrfach in den letzten Jahren durch gewaltsame Übergriffe aufgefallen.

Januar 2022: Die Sporthalle in Berlebeck wurde mit neonazistischen Parolen & Symbolen übersprüht

Arne Ulrich fotografierte sich selbst im Januar 2022 bei einer nächtlichen Graffiti-Aktion, bei der er eine Sporthalle in Berlebeck mit neonazistischen und antisemitischen Parolen, Hakenkreuzen, dem Lambda-Symbol der Identitären Bewegung sowie weiterer neonazistischer Symbolik besprühte. Die Erziehungsziele der HDJ scheinen in OWL erreicht worden zu sein. Am 14.10.2022 fanden bei den Hanuseks in Fromhausen und in Berlebeck polizeiliche Razzien im Zusammenhang mit einem schweren gewaltsamen Übergriff vom 09.10.22 auf zwei Personen statt. Die beiden Angegriffenen wurden bei dem Übergriff schwer verletzt und mussten im Krankenhaus behandelt werden.

Lennard Sanner bei NPD-Demo am 23.11.19 in Hannover (Quelle: Recherche Nord)

Wenn die Neonazi-Gruppe bei den BSA-Demos auftaucht, scheint Lennard Sanner eine Führungsrolle einzunehmen. Sanner (wohnhaft in Horn-Bad Meinberg) ist ein umtriebiger Neonazi, der seit 5 Jahren in regionalen rechten Strukturen auftaucht. 2017 war Sanner für unbekannte Dauer bei der ultranationalistischen Bielefelder Burschenschaft Normannia Nibelungen. Dort machte er auch mit dem Normannen Florian Schürfeld Bekannstschaft. Schürfeld fiel 2017 bei Demos der Identitären Bewegung auf und ist heute ein Bursche der Normannia Nibelungen. Am 04.11.22 begleitete Schürfeld die Neonazis in Bielefeld, wie auch schon am 17.12.2021. Sanner trat in den letzten Jahren regelmäßig bei Neonazi-Veranstaltungen auf, wie z.B. beim Rudolf-Hess-Marsch 2018, bei den Haverbeck-Aufmärschen 2018, dem Neonazi-Festival „Tage der nationalen Bewegung“ 2019 oder auch der Presse-feindlichen Demo der NPD im November 2019. Im Mai 2021 wurde Sanner zu einer Geldstrafe verurteilt, da er auf der besagten NPD-Demo gegen das Kunsturhebergesetz verstoßen hatte. Immer wieder nimmt Sanner an Veranstaltungen der NPD-Nachwuchs-Organisation JN teil. Er pflegt sowohl Kontakte in kameradschaftliche Strukturen, zur Burschenschaft Normannia Nibelungen, zu neonazistischen Parteien wie auch zu der exklusiven und elitären Artgemeinschaft. Mit seiner Partnerin Ann-Marie Diederichs zieht Sanner in Horn-Bad Meinberg eine gemeinsame Tochter groß. Diederichs, selbst in der Neonazi-Szene aktiv, stammt aus einer rechten Göttinger Familie und nahm ebenfalls an Treffen der Artgemeinschaft teil. Für die Aktion Hermannsland gibt sie auch das Instagram-Model.

Valentin Hassenewert

Ebenfalls Teil der Neonazi-Gruppe am 04.11.22 bei der BSA-Demo war Valentin Hassenewert. Hassenewert hat bis zum Sommer eine Lehre zum Zimmerer in Bielefeld gemacht und hat Kontakte in die rechte Fußballszene. Im November 2020 beteiligte er sich an einem Treffen der Identitären Bewegung in Bielefeld. Kurz darauf kommt es zu einer rassistischen Plakataktion der Identitären Bewegung in Bielefeld. Im Winter 2021/2022 besuchte Hassenewert wiederholt BSA-Demos. Am 17.12.21 beteiligte er sich an der Seite von Lennard Sanner an dem Durchbruch am Rathaus. Diese ostwestfälische Neonazi-Gruppe vereint klassischen Neonazismus mit Identitärer Bewegung, sie ist ideologisch gefestigt und gewaltbereit.

Vorne Florian Rust beim Burschentag in Eisenach 2022 (Quelle: Recherche Nord)

Auch Vertreter der JA Bielefeld nahmen an der BSA-Demo am 04.11.2022 teil. Die zeitgleiche Demoteilnahme mit der Neonazi-Gruppe um Sanner erscheint dabei nicht zufällig. Am 17.12.21 wurde die Neonazi-Gruppe von Florian Schürfeld und Florian Rust begleitet. Rust ist Vorsitzender der JA Bielefeld und ebenfalls Mitglied bei Normannia Nibelungen. 2021 und 2022 scheiterte Rust bei den Studierendenparlamentswahlen der Universität Bielefeld kläglich mit einer eignen Wahlliste. Rust nahm an mehreren BSA-Demos teil und war auch am 04.11.22 vor Ort. Die Verflechtung der Jungen Alternative, Normannia Nibelungen und der regional gewaltbereiten Neonazi-Szene ist ein Grund zur Besorgnis. Am 07.11.2021 veranstaltete die JA Bielefeld in dem Burschenschaftshaus einen „patriotischen Liederabend“, zu dem neben Burschen und Alten Herren auch Lennard Sanner und Ann-Marie Diederichs sowie der Bielefelder Neonazi Tim Sauer erschienen. Das Haus der Normannia in der Schloßhofstraße 96 bietet der rechten Szene einen Zufluchts- und Veranstaltungsort mitten in Bielefeld.

Die Bielefelder Öffentlichkeit – ein hoffnungsloser Fall?

Wir haben in vielen Texten auf die ideologische Ausrichtung und personelle Zusammensetzung von BSA deutlichst hingewiesen und die Gefahren, die aus dieser Bewegung entstehen, klar benannt. Wir haben die Teilnahme von Neonazis und rechten Akteur*innen ausführlich und wiederholt dokumentiert und unsere Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mit unseren Recherchen haben wir immer wieder der polizeilichen Darstellung deutlich widersprochen. Die polizeilichen Pressemitteilungen zu den BSA-Demos waren geprägt von dem Unwillen des Staatsschutzes, diese Bewegung und ihre Akteur*innen korrekt einzuschätzen. Immer wieder wurde die Teilnahme organisierter Neonazis geleugnet, obwohl deren Teilnahme durch vielfältiges Bildmaterial eindeutig belegt ist. Auch bezogen auf die regionale Neonazi-Szene geben die Sicherheitsbehörden immer wieder unhaltbare Einschätzungen ab, welche dann in den lokalen Medien unkommentiert als Wahrheit übernommen werden. Die unkritische Übernahme der Mitteilungen von Verfassungsschutz und Polizei durch Teile der lokalen Medien trägt zu einer Verharmlosung der Sachlage bei. Die ostwestfälische Neonazi-Szene ist nicht verschwunden und sie ist auch nicht kleiner geworden. Sie befindet sich in einer neuen Findungsphase, von Behörden und Zivilgesellschaft unbehelligt. Und die Akzeptanz der rechten, verschwörungsideologischen Gruppe „Bielefeld steht auf“, bietet den Neonazis die Möglichkeit für Anschluss, Straßenpräsenz und neue Rekrutierungspotenziale. Im Jahr 2019 kamen gut 14.000 Menschen in Bielefeld zum Protest gegen 250 Neonazis zusammen. Von dieser Protestbereitschaft scheint nichts mehr übrig zu sein. Die Entscheidung für die Kampagne „Bielefeld nimmt Platz“ im Januar hat sich als fatale Fehlentscheidung erwiesen. Antifaschistische Proteste in anderen Städten zeigen deutlich, dass es einen entschlossenen realen Gegenprotest braucht, um diese rechte Bewegung einzudämmen.

 

Folgend noch den Text als PDF zum Download: